Aus Einar wird Lili

Von Jessica Weber, Julian Flesch, Lea Krug und Vivien Blum — 14. August 2016

Manche Menschen überschreiten die Grenzen ihres biologischen Geschlechts: Vor 85 Jahren fand der erste dokumentierte Eingriff statt, der aus einem dänischen Maler eine Frau machte. Inzwischen ist das leichter geworden.

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Als das Modell der dänischen Künstlerin Gerda Wegener überraschend absagt, muss ihr Mann Einar einspringen. Der Maler schlüpft in Kleid, Strumpfhosen und hohe Schuhe. Mit
etwas Lippenstift und Rouge verwandelt er sich in die Frau Lili. Gerda klatscht entzückt in die Hände. „ Das vollkommenste Damenmodell“, ruft sie, „als hättest du nie etwas anderes als Frauenkleider getragen.“

Begeistert von Einars Verkleidung gehen die beiden aus. Als Tanzpartnerin
ist Lili sehr begehrt. Niemand durchschaut die Maskerade. Im Lauf der 1920er Jahre schlüpft Einar immer häufiger in die Rolle der Lili. Je lebendiger Lili wird, desto kränklicher fühlt sich Einar. Mehrere Ärzte versichern ihm, dass er körperlich völlig gesund sei. Erst der deutsche Arzt Kurt Warnekros erkennt das Problem und nimmt die
mentierte Operation vor.

Die ersten Untersuchungen finden im Februar 1930 in Berlin statt. Die Ärzte machen Blutbilder und erstellen psychologische Gutachten von Einar. Da Männer nicht in einer Frauenklinik behandelt werden dürfen, muss Einar sich vorher einer Kastration unterziehen. Nach dem Eingriff nimmt er Lilis Identität vollständig an. In einer zweiten und dritten Operation führt der Mediziner Warnekos in seiner Dresdner Frauenklinik weitere Eingriffe durch und transplantiert Lili weibliche Hormondrüsen.

Gerda unterstützt Lili die ganze Zeit über. Nach der Genesung kehren die beiden zurück in ihre Heimat Kopenhagen. Auf Wunsch der beiden erklärt der dänische König ihre Ehe für ungültig. Gerda heiratet später einen gemeinsamen Freund. Sie und Lili bleiben gute Freundinnen.

Man muss noch heute sehr viel auf sich nehmen, um das sein zu können, als was man sich fühlt.

Seitdem hat sich die Gesellschaft verändert. Heute sind die Menschen toleranter geworden und die Eingriffe sicherer. Schätzungen zufolge leben zwischen 40.000 und 80.000 Transgender in Deutschland. Sascha aus der Nähe von Karlsruhe ist einer von ihnen. Er hat kurzes blondes Haar, einen Bart und trägt ein sportliches T-Shirt. Das er früher „Sarah“ hieß, ist schwer vorstellbar – sein Äußeres und sein Auftreten lassen das auf keinen Fall vermuten.

Sascha findet es falsch, dass heutzutage oft noch von Geschlechtsumwandlung gesprochen wird, denn es gehe nicht darum, das Geschlecht umzuwandeln. Er habe sich schon immer als Mann und nicht als Frau gefühlt. Sascha spricht lieber von einer Angleichung, er sei schließlich kein Zauberer, der sich verwandelt habe: „Ich bin immer noch dieselbe Person wie früher.“ Schon als Kind habe er sich als Junge gefühlt. Auch vor seiner Angleichung sei er auf der Straße häufig als Mann angesprochen worden. Mit 25 Jahren entscheidet sich Sascha schließlich dafür, ein Mann zu sein. Er lässt sich die Brüste und die Gebärmutter entfernen.

Während Lilis Gutachten nur zwei Stunden dauerte, war Sascha insgesamt etwa zwei Jahre in psychologischer Betreuung. Ohne die ist es in Deutschland nicht möglich, sich plastisch verändern zu lassen. Der auf Transgender spezialisierte Psychologe Reinhard Korn aus Heidelberg betont, dass die Therapie kein Heilungsversuch sei. Sie soll die Patienten lediglich begleiten. Im Gespräch will er sichergehen, dass ihnen die Folgen der Eingriffe bewusst sind. „Wir müssen im Grunde darauf vertrauen, was uns der Patient erzählt“, sagt Korn, denn Transsexualität sei eine Eigendiagnose. Sie kann nicht an äußeren Symptomen festgemacht werden.

Vor der endgültigen Entscheidung durchlaufen die Patienten einen Alltagstest und erproben das Leben im gewünschten Geschlecht. Die Reaktionen der anderen können für die Patienten ein Problem sein. Auf der Arbeit wird natürlich getuschelt, wenn der Schichtführer plötzlich als Frau auftaucht. „Frauen haben es leichter, sie binden sich die Brust ab. Aber für etwas ältere Männer, mit Bartwuchs, etwas schütterem Haar, härteren Gesichtszügen ist es schwieriger“, erzählt Korn.

Nach dem Okay des Psychologen dürfen die Ärzte mit der Hormonbehandlung und den chirurgischen Eingriffen beginnen. Die gängigste Veränderung vom Mann zur Frau greift auf die sogenannten Invaginationsmethode zurück. Diese Operation wird in zwei Schritten durchgeführt: Penis und Hoden werden entfernt und die Harnröhre verkürzt. Für die neue Scheide formt man einen Vaginalkanal. „Bei diesem Schritt besteht die Gefahr, dass der Darm verletzt wird“, erklärt der Urologe Jochen Heß vom Universitätsklinikum Essen. In der zweiten Sitzung macht der Chirurg hauptsächlich äußerliche Korrekturen. Zwischen den beiden Eingriffen sollten Monate liegen.

Über 40.000 Transsexuelle leben in Deutschland. Sascha, der früher Sarah hieß, ist einer von ihnen.

Die Verwandlung von Frau zu Mann ist komplizierter. Sie braucht länger. Jeder Patient entscheidet für sich, welche Operationen er vornehmen lassen möchte. Als Erstes werden Brüste, Gebärmutter und Eierstöcke entfernt. Der nächste Schritt ist der Aufbau eines künstlichen Penis. Auch Penisprothesen gibt es, unter anderem mit Pumpe, die in den Hoden eingesetzt wird.

„Das hätte wahrscheinlich jeder Transmann gerne“, meint Sascha. Doch das Risiko eines solchen Eingriffs sei ihm einfach zu hoch. Deswegen habe er den Eingriff bisher nicht vornehmen lassen und möchte das auch in Zukunft nicht. Denn um einen Penis zu formen, müssen die Chirurgen Haut vom Unterarm entfernen. Es bleibe eine enorm große Narbe und es könne passieren, dass der Patient nichts fühlt und das Gewebe wieder abstirbt, sagt Sascha.

Wer sich im falschen Körper fühlt und die Grenzen des biologischen Geschlechts überschreiten will, der muss noch immer viel auf sich nehmen. Immerhin hat sich politisch in den vergangenen Jahrzehnten viel getan: Anfang der 1980er Jahre trat das Transsexuellengesetz in Kraft, das es Betroffenen ermöglicht, auch amtlich in ihre neue Identität zu schlüpfen. Voraussetzung dafür war lange die Operation, die das Geschlecht äußerlich festlegte. Diese Regelung erklärte das Bundesverfassungsgericht 2011 für nichtig. Seitdem darf aus Sarah auch ohne Operation Sascha werden. Doch die Entscheidung über die behördlichen Änderungen liegt noch immer bei den Gerichten.

Das kritisiert die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität, denn die Richter seien dem Wunsch der Antragsteller nicht immer nachgekommen. Der Verband setzt sich für eine Regelung ein, die es möglich macht, den Identitätswechsel auf dem Standesamt vorzunehmen. Die Entscheidung solle bei den Betroffenen liegen, nicht bei Gericht. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist man von solchen Diskussionen weit entfernt. Im Juli 1931 kehrt Lili allein nach Dresden zurück, um noch einen Schritt weiter zu gehen: Sie möchte sich von Warnekros eine Gebärmutter transplantieren lassen. Nach der Operation verschlechtert sich ihr Zustand zusehends. Sie stirbt im September. Die Ursache ihres Todes ist bis heute nicht vollständig geklärt. Ihre Erlebnisse hat sie in Tagebucheinträgen und Briefen festgehalten.

Nicht nur der Mensch, auch die Natur stößt immer wieder an Grenzen. Die Studierenden der WMK-Lehrredaktion haben sich im Sommersemester 2016 mit dem ein oder anderen „Grenzgänger“ auseinandergesetzt. Sie wollten wissen, welche Körpergröße Tiere erreichen können, wie man seine Leistungsfähigkeit beim Sport richtig einschätzt und was es für Transsexuelle bedeutet, wenn das biologische Geschlecht nicht der persönlichen Identität entspricht. Unter der Leitung von Dr. Christian Gruber, Ressortleiter Wissenschaft bei der Rheinpfalz am Sonntag, entstand daraus eine Artikelserie. Wir wünschen viel Spaß beim Durchblättern!

Seminarleitung: Dr. Christian Gruber
Sommersemester 2016

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